Die Geschichte vom Findefuchs ist eine wunderbare Geschichte vom Geliebtwerden, unabhängig von Herkunft und Geschichte:

Der Findefuchs

 

Wie der kleine Fuchs eine Mutter bekam

 

Irina Korschunow

 

Der kleine Fuchs ist allein

 

Der kleine Fuchs lag ganz allein im Gebüsch und fürchtete sich. Er wartete auf seine Mutter. Aber seine Mutter konnte nicht kommen. Der kleine Fuchs fürchtete sich. Er fror. Er hatte Hunger. Er winselte und weinte.

Da kam eine Füchsin vorbei. Sie hörte, wie der kleine Fuchs winselte. Eigentlich wollte sie weiterlaufen. Sie hatte drei Kinder zu Hause in ihrem Bau, die warteten auf sie. Doch weil der kleine Fuchs so jammerte, kroch sie zu ihm ins Gebüsch.

 

„Was ist denn los mit dir?“ fragte die Füchsin und stupste mit der Pfote gegen seinen Kopf. Der kleine Fuchs winselte noch lauter. Sie beugte sich über den kleinen Fuchs und schnüffelte. Er roch, wie kleine Füchse riechen. Er war weich und wollig, wie kleine Füchse sind. „Armer kleiner Findefuchs“, sagte die Füchsin und strich mit der Pfote über sein Fell. Der kleine Fuchs hörte auf zu winseln.

 

Die Füchsin roch fast wie seine Mutter. Sie war auch genauso warm. Sie legte sich neben ihn, um ihn zu wärmen. Der kleine Fuchs kuschelte sich in ihr Fell. Er fand die Milch und trank. Er schmatzte und gluckste und schluckte und hörte gar nicht wieder auf.

 

„Trink nur, kleiner Findefuchs“, sagte die Füchsin. „Trink dich satt.“

 

Der Hund

 

Als der kleine Fuchs genug getrunken hatte, schlief er ein. Vorsichtig packte sie ihn mit den Zähnen. Der kleine Fuchs wachte auf und winselte leise. Die Füchsin fuhr mit der Zunge über seinen Kopf. „Hab keine Angst, mein Findefuchs“, sagte sie. „Wir gehen nach Hause.“

 

Irgendwo bellte ein Hund. Er bellte und kam näher. Die Füchsin floh. Sie hetzte durch den Wald und versuchte, den Hund abzuschütteln. Sie keuchte, sie hechelte, sie bekam kaum noch Luft. Aber den kleinen Fuchs ließ sie nicht los.

 

Das Bellen wurde leiser, immer leiser, bis es verstummte. „Wir sind gerettet, mein Findefuchs“, keuchte sie und ließ den kleinen Fuchs ins Gras fallen. Er kuschelte sich an sie und fing gleich an zu trinken. „Komm, mein Findefuchs“, sagte sie schließlich. „Wir müssen nach Hause.“

 

Der Dachs

 

Inzwischen war es spät geworden. Mit dem kleinen Fuchs in der Schnauze lief die Füchsin durch die Dämmerung.

Da begegnete ihr der Dachs. „Was schleppst du denn heute mit dir herum?“ Die Füchsin wollte weitergehen. Aber der Dachs versperrte ihr den Weg und fragte noch einmal: „Was du da herum­schleppst, will ich wissen?“

 

Die Füchsin legte den kleinen Fuchs ins Gras und stellte sich über ihn. Sie hob den Kopf und zeigte dem Dachs die Zähne. „Das ist mein Findefuchs“, sagte sie. „Ein Findefuchs?“ rief der Dachs. „Was willst du mit einem Findefuchs? Du hast doch schon drei Kinder. Gib den Findefuchs mir, ich will ihn fressen.“

 

„Meinen Findefuchs will ich behalten. Ich habe ihm zu trinken gegeben und ihn gewärmt. Ich bin mit ihm vor dem Hund des Jägers geflohen und habe ihn bis hierher getragen. Mein Findefuchs gehört mir.“ Die Füchsin war stark. Weil sie um ihren Findefuchs kämpfte, war sie noch stärker als sonst. Sie kämpfte mit Krallen und Zähnen. Der Dachs biss sie in die Schulter und schlug ihr eine Schramme in die Schnauze. Dann hörte sie, wie der kleine Fuchs winselte. Sie beugte sich über ihn und leckte seinen Kopf. „Es wird alles gut, mein Findefuchs“, sagte sie. „Wir sind gleich zu Hause.“

 

Die Fuchskinder

 

„Da bin ich wieder“, sagte die Füchsin. Die drei Fuchskinder fiepten vor Freude. Hungrig krochen sie zu ihrer Mutter und wollten trinken. Die Füchsin legte den kleinen Fuchs mitten zwischen ihre Kinder. „Ich habe euch etwas mitgebracht“, sagte sie. Der kleine Fuchs sah die Fuchskinder an und winselte ängstlich. Die Fuchskinder winselten auch.

 

„Das ist der Findefuchs. Er gehört jetzt zu uns“, sagte die Füchsin und fuhr allen vier Kindern mit der Zunge über die Köpfe. Die drei Kinder beschnüffelten den kleinen Fuchs. Er roch genau wie ihre Mutter, und ihre Angst verschwand. Der kleine Fuchs schnüffelte ebenfalls. Er beschnüffelte ein Fuchskind nach dem anderen. Jedes roch wie die Füchsin, und auch der kleine Fuchs hatte keine Angst mehr.

 

Da kuschelten sich die vier kleinen Füchse an ihren Bauch und tranken sich satt. Später spielten sie zusammen. Sie spielten Anschleichen und Weglaufen. Sie spielten Fangen und Verstecken. Sie spielten Knurren und Fauchen und Pfotenschlagen und Zähnefletschen. Die Füchsin sah ihnen zu. Sie leckte ihre Wunden und freute sich über die Kinder.

 

Die Nachbarin

 

Am nächsten Tag traf sie ihre Nachbarin. „Wie geht es deinen drei Kindern?“ fragte die Nachbarin. „Danke, es geht ihnen gut“, sagte die Füchsin. „Sie trinken und spielen und werden größer. Aber es sind nicht drei. Es sind vier.“ „Vier?“ fragte verwundert die Nachbarin. „Seltsam. Gestern waren es noch drei.“ „Ich habe ein viertes dazu bekommen“, sagte die Füchsin. „Einen kleinen Findefuchs.“ „Willst du ihn etwa behalten? Wer drei Kinder hat, braucht keinen Findefuchs.“ „Ob ich ihn brauche oder nicht, ist mir egal“, sagte die Füchsin. „Ich habe ihn gewärmt und ihm zu trinken gegeben. Ich habe ihn durch den Wald geschleppt. Ich bin mit ihm vor dem Hund geflohen und musste sogar mit dem Dachs kämpfen. Mein Findefuchs soll bei mir bleiben.“ „Was ist denn eigentlich so Besonderes an deinem Findefuchs?“

„Besonderes?“ Die Füchsin dachte nach. Ihr fiel nichts Besonderes ein. „Ich weiß nicht“, sagte sie. „Warte, ich zeige ihn dir.“

 

Der kleine Fuchs hat eine Mutter

 

Sie konnte ihn nicht mehr herausfinden. Sie sah das erste Kind an. Sie sah das zweite Kind an. Sie sah das dritte und das vierte Kind an. Alle sahen wie ihre kleinen Füchse aus. Sie beschnüffelte eins nach dem andern. Alle rochen gleich. Jedes konnte der Findefuchs sein oder nicht. „Komm her, mein Findefuchs“, lockte sie. Da kamen alle vier Fuchskinder angekrochen und kuschelten sich in ihr Fell. Die Füchsin steckte den Kopf aus dem Bau. „Es tut mir leid, ich kann dir den Findefuchs nicht zeigen“, sagte sie. „Ich habe keine Ahnung, wer von meinen Kindern der Findefuchs ist.“

 

„Wie schrecklich!“ rief die Nachbarin. Die Füchsin musste lachen. „Das ist doch nicht schrecklich“, sagte sie. „Ich habe alle vier gleich lieb, und darauf kommt es an.“

 

Von da an war der kleine Fuchs kein Findefuchs mehr. Er war das Kind der Füchsin, und die Füchsin war seine Mutter. Sie gab ihm zu essen und zu trinken. Sie beschützte ihn. Sie brachte ihm bei, was ein Fuchs wissen muss. Die Füchsin und der kleine Fuchs gehörten zusammen. Er blieb bei ihr, bis er für sich selbst sorgen konnte, so, wie es bei den Füchsen üblich ist.